So modelliert man agile Prozesse

Mit der zunehmenden Popularität von Agilität in den letzten Jahren schien gleichzeitig der Stern des Prozessmanagements zu sinken. Viele sehen hier zwei grundverschiedene Konzepte sich gegenüberstehen. Prozessmanagement wird dabei gleichgesetzt mit dem Steuern und Optimieren starrer Routineabläufe. Für Flexibilität ist hier kein Platz. Mit New Work verbindet man grenzenlose Freiheiten um spontan auf Kundenwünsche oder technische Neuerungen reagieren zu können. Diese beiden Assoziationen sind jedoch einseitig und viel zu kurz gegriffen. Denn auf der einen Seite kennt man heute viele Möglichkeiten um auch hoch standardisierte Prozesse sehr flexibel zu modellieren. Und auf der anderen Seite ist mittlerweile manchen Freiheitsliebenden klar, dass auch Agilität organisiert werden muss. Also wie modelliert man agile Prozesse?

Welche Prozessmodelle eignen sich für welche Prozesstypen?

Agilität und Prozessmanagement sind also keine Gegensatzpaare. Vielmehr gibt es verschiedene Prozesstypen, die sich in den Anteilen planbarer und spontaner Prozessabschnitte unterscheiden. Ausgehend von den vier Cynefin-Situationen werden die vier Prozesstypen „Simple Prozesse“, „Routineprozesse“, „Regelprozesse“ und „Ad-hoc-Prozesse“ differenziert. Weitere charakterisierende Kriterien wie Prozesskomplexität oder Wiederholungsgrad sowie Beispiele für die vier Prozesstypen finden sich in folgender Abbildung.

Cynefin-Modell mit vier Prozesstypen
Aus dem Cynefin-Modell abgeleitete Przesstypen

Starre Prozessmodellierung oft nicht passend

Notationen wie BPMN oder Flowchart/Folgeplan eignen sich besonders für Simple Prozesse und Routineprozesse. Wie aber modelliert man sinnvollerweise Regel– und Ad-hoc-Prozesse, die durch eine flexible Reihenfolge der Aufgaben und Spontanität der Aufgabenerledigung charakterisiert sind?

In der Praxis trifft man immer wieder auf Prozessbeschreibungen, in denen auch agile Prozesse sehr starr modelliert werden. Beispielhaft hierfür ist der nebenstehende Folgeplan für einen Onboarding-Prozess. Wenn man allerdings neue Kollegen einarbeitet gibt es bis auf wenige Ausnahmen eigentlich keine zwingende zeitlich-logische Reihenfolge der Einarbeitungsaktivitäten. Klar sollte der Arbeitsplatz am ersten Tag vorhanden sein oder die Zugänge zu IT-Systemen und Räumen organisiert sein. Aber ob man erst vom Marketing die CI-Guideline oder vom Produktmanagement die Produktstandards erläutert bekommt ist unerheblich.

Flowchart Onboarding-Prozess

Flexible Möglichkeiten der Prozessmodellierung

Streng determinierte Prozessmodelle wie wie das obere Flowchart sind dementsprechend erstmal nicht gut geeignet, um agile Prozesse zu visualisieren. Das Ad-hoc-Symbol im folgenden BPMN-Diagramm ist hier die bessere Alternative. Der aufgeklappte Teilprozess „Einarbeitung“ mit der Tilde bedeutet, dass die darin enthaltenen Aktivitäten wahlweise und in jeder Reihenfolge erledigt werden können.

BPMN-Diagramm für Onboarding-Prozess

Arbeit mit dem Board-Diagramm

Noch ein Schritt weiter geht das Board-Diagramm. Diese vom Kanban-Board abgeleitete Modellierungsart sieht ein sogenanntes Masterboard vor, bei dem in der ersten Spalte alle bis dato bekannten Aufgaben des Prozesses stehen. Die Tasks des Masterprozesses werden so weit wie möglich und sinnvoll in einzelne wiederkehrende Tätigkeiten untergliedert. Gibt es eine typische Reihenfolge der Aufgaben im Prozessverlauf, wird sie durch die Auflistung von oben nach unten angedeutet. Sie ist aber nicht zwingend vorgegeben, da ja genau die Reihenfolge-Flexibilität durch die Board-Bearbeitung (To Do – Doing – Done) gewollt ist.  In folgender Abbildung ist ein Master-Board für den Einarbeitungsprozess mit dem Tool ibo netProject modelliert.

Master-Board für den Einarbeitungsprozess mit dem Tool ibo netProject

Das Master-Board dient als Blaupause für jede Prozessinstanz. Mittels „Prozess-Tailoring“ wird aus dem Masterprozess eine speziell für die jeweilig anstehende Durchführung individualisierte Prozessaufgaben-Liste erstellt. Ein eigens für die Prozessinstanz definiertes Team arbeitet selbstorganisiert die To-Dos ab.

Für den neuen Kollegen „Jens Schwarz“ wird  das Masterboard „Onboarding“ kopiert und damit ein individualisierter Einarbeitungsprozessprozess angelegt. Es werden vier Kollegen definiert, die ihn einarbeiten. Je nach Verfügbarkeit zieht sich einer der Kollegen eine Karte aus der Prozessaufgaben-Spalte in die Bearbeitungspalte. Nach Beendigung wandert die Karte in die Spalte „erledigt“. Dieses Procedere wird für zwei weitere Einarbeitungen von „Sophie Grün“ und „Kevin Grau“ wiederholt und wird im linken unteren Bereich der folgenden Abbildung gezeigt.

Individualisierter Einarbeitungsprozess aus dem Masterprozess

Kontinuierlicher Verbesserungsprozess

Nach jeder Prozessdurchführung wird rückblickend auf die konkrete Aufgabenfolge geschaut. Dieses Vorgehen entspricht Techniken wie Manöverkritik, Retroperspektive oder Audit, die man auch bei anderen Methoden im Projekt- und Prozessmanagement anwendet. Entsprechend dem 5. Kaizen-Prinzip der Standardisierung  werden die aus den jeweiligen Erfahrungen gewonnenen Kenntnisse in den Masterprozess integriert. So fließen KVP-mäßig verbesserte Taskausführungen in den Standard ein. Oder es werden Aufgaben ganz von der Liste genommen oder neue kommen hinzu.

Im Beispiel wurden bei der Einarbeitung von Kevin Grau erstmalig Hospitationen vorgesehen. Da sehr gute Erfahrungen mit dieser Form des Onboardings gemacht wurden, fließt Hospitation nun als Standardaufgabe in den Masterprozess ein.

Maßgeschneiderte Masterboards

Masterboards können auch als Referenzprozesse für verschiedenen Objekte (Produkte, Kundengruppen etc.) angelegt werden. Dies ist dann sinnvoll, wenn sich die Aufgabenliste je Objekt signifikant unterscheidet.

Unterscheiden sich beispielsweise die Aktivitäten bei der Einarbeitung je nach Mitarbeitergruppe deutlich, ist es sinnvoll jeweils ein Masterboard für „Onboarding Produktmanager:in“, „Onboarding Key Account Management“ oder „Onboarding Werkstudent“ anzulegen.

Checklisten als flexible Prozessdokumentation

Auf der Aufgabenebene kann man die Idee der Standardisierung mit sogenannten  Standard Operating Procedures (SOP) umsetzen. Diese Standardvorgehensweisen kennt man bisher vor allem in der Medizin, in der pharmazeutischen Forschung, in der Luftfahrt und beim Militär. Ein SOP wird in § 2 Absatz 15 des Arznei- und Wirkstoffherstellungsverordnung definiert als „schriftliche oder elektronische Anweisung zur Beschreibung der einzelnen Schritte wiederkehrender Arbeitsgänge (Standardarbeitsverfahren), einschließlich der zu verwendenden Materialien und Methoden“.

Übertragen auf die hier im Fokus stehenden Regel– und Ad-hoc-Prozesse sind SOP Aktivitätenlisten für Aufgaben im Sinne einer Checkliste.

Für die Aufgabe „Arbeitsplatz einrichten“ beim Einarbeitungsprozess gibt es eine Checkliste mit standardmäßig zu erledigen Aktivitäten.  Bei der letzten Einarbeitung eines neuen Kollegen wurde der neu eingeführte Willkommensgruß besondes positiv aufgenommen und in folgender Checkliste des Tools Trello aufgenommen.

Masterboard mit Checkliste

Fazit

Durch die Kombination von Board-Modellierung auf End-to-end-Prozess-Ebene und Standard Operating Procedures auf Teilprozess-Ebene kann die Kombination von Agilität und Stabilität praktisch umgesetzt werden. So kann sowohl flexibel auf Kundenanforderungen, technologische Neuerungen oder sonstige unvorhergesehenen Ereignisse reagiert werden, als auch eine höchstmögliche Effizienz durch maximal sinnvolle Standardisierung der Einzelschritte erreicht werden.

Vertiefende Informationen zum Thema Prozessmodellierung im Unternehmen:
Bedeutung, Vorgehen und Einsatzgebiete finden sich hier
Überblick Prozessmodellierung
Prozesslandkarten
End-to-end-Prozessmodelle
Prozessmodelle im Detail

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