Als ich das erste Mal mit dem Schlagwort VUCA in Berührung kam, dachte ich spontan: SO WHAT!? Hat es das nicht immer schon gegeben. Es gab immer schon Entscheidungen, die in unsicherem und unbeständigem Umfeld getroffen werden mussten? Was ist daran neu? Und warum erfährt das gerade jetzt so einen Hype?
Natürlich gab es immer schon Entscheidungen, die in unsicherem und unbeständigem Umfeld getroffen werden mussten. Im Kleinen wie im Großen. Waren es größere Geschichten, dann wurde der notwendige Projektrahmen geschaffen, um die auf Effizienz und Effektivität getrimmte Primärorganisation möglichst störungsfrei laufen zu lassen. Mit mehr oder weniger erfolgreichem Projektabschluss kam der ‘big bang’ und die Projektergebnisse wurden ausgerollt. Die Veränderungen erfolgten plangetrieben und anlassbezogen.
Heute zeichnet sich ein anderes Bild!
Die Notwendigkeit, sich permanent zu verändern und an neue Bedingungen anzupassen, stellt vielmehr die Regel als die Ausnahme dar. Die Grenzen zwischen Linien- und Projektarbeit verschwimmen zunehmend – sie passen nicht mehr zu den Anforderungen, die heute an Unternehmen und die Menschen in der Organisation gestellt werden.
Schon vor 20 Jahren stellte eine Gruppe von Software-Entwicklern fest – Stichwort Agiles Manifest – dass die Art zu Arbeiten nicht mehr den Anforderungen der Welt entspricht. Der Leitsatz von damals gilt heute mehr denn je: „Interaktionen und Individuen sind wichtiger als Prozesse und Tools!” Wenn wir diesen Leitsatz ernst nehmen, dann braucht es einen Musterwechsel, einen Musterbruch – nicht nur eine neue Methode oder Struktur, sondern einen anderen Umgang, eine neue Haltung, um mit den Herausforderungen unserer Zeit Schritt halten zu können.
Musterwechsel statt Buzzword-Bingo
Für mich sind die Wortwolken, die sich um VUCA bilden, die inflationäre Verwendung der zahlreichen Wortkreationen und das Buzzword-Bingo, das viele spielen, Beleg für die Hysterie und Orientierungs- und Ratlosigkeit, mit denen viele Manager, Führungskräfte und Mitarbeiter momentan kämpfen.
Um was geht’s: Einfach gesagt, sich (selbst)bewusst auf neue unbekannte Situationen einzustellen und einzulassen, mit dem Wissen und dem Erfahrungsschatz, der jedem Einzelnen von uns zur Verfügung steht. Das Abspulen reflexhafter, tradierter Routinen und Standards ist in unbekanntem Terrain kontraproduktiv. Das heißt aber auch, dass dieses Wissen und der Erfahrungsschatz in einer durch Unsicherheit und Komplexität geprägten Welt nicht derselbe bleiben kann. Und dass die „Bekämpfung des Unsicheren, Komplexen“ durch den Abruf vermeintlich bewährter Muster nicht funktionieren kann und zwangsläufig an Grenzen stößt.
Viele Unternehmen reagieren auf VUCA mit dem Abbau von Hierarchien, schaffen sogenannte Labs und führen neue Ansätze und Methoden ein, wie Design Thinking, Scrum oder ändern radikal das gesamte Betriebssystem – Holokratie lässt grüßen. Für mich sind diese Initiativen jedoch eher symptomatisch für die mangelnde Klarheit und Desorientierung, die in vielen Organisationen aktuell herrschen und mit dem Label „Agilität“ gerechtfertigt werden. Die Methode, das Tool, das neue Rollenkonzept, der energetisierende Purpose wird’s schon richten. Aber ob damit ein echter Musterbruch verbunden ist und gerade nicht mehr desselben – ich bezweifle es.
Mit den aktuellen Methoden, Techniken und Organisationsmodellen werden vor allem die Team- und Organisationsebene betrachtet. Wir machen Sprints und Retros, arbeiten cross-funktional – mache aber immer noch Ziel-/Jahresgespräche mit meinem disziplinarisch Vorgesetzten. Da sind (Priorisierungs-)konflikte vorprogrammiert. Es entsteht eine permanente Spannung, Stresssituation auf persönlicher und zwischenmenschlicher Ebene. Wir sprechen von Rollen und meinen die Person! Wir führen Scrum ein, steuern aber über Projektstrukturpläne á la Command & Control. Sprechen darüber, wie wichtig Kundenfeedback ist – über Projekterfolg entscheidet jedoch der Führungskreis/Lenkungsausschuss…
Es braucht den Musterbruch!
Diese sogenannten Musterbrüche wahrzunehmen und immer wieder anzunehmen, sogar zu suchen, das bezeichne ich als agiles Mindset. Dafür braucht es eine Komplexitätsfähigkeit, die beim Individuum, bei jedem einzelnen ansetzt. Agilität steht für mich im Kern für diese Komplexitätsfähigkeit, d.h. die Anpassungs- bzw. Adaptionsfähigkeit, um Veränderungen antizipieren und darauf angemessen reagieren zu können. Der bewusste Umgang mit Instabilität wird selbst zum Muster, die Grundlage für Lernen, Kreativität, Innovation und Organisationsentwicklung.
Unternehmen, die in der Lage sind, diese Komplexitätsfähigkeit zu kultivieren, das sind die Unternehmen, deren Erfolgsgeschichte man letztlich erzählt.
Dass diese Musterbrüche nicht das Privileg einzelner bleiben darf oder mit Kopfmonopolen verbunden ist, das liegt auf der Hand!
Stellt sich also die Frage, wo anfangen? Was ist der erste Schritt?
Am besten bei mir selbst! Wenn wir den Leitsatz „Interaktionen und Individuen sind wichtiger als Prozesse und Tools“ ernst nehmen, dann beginnt der Musterwechsel bei mir persönlich.
Wie das gelingen kann?
Öffnet überschaubare Entwicklungsräume zur Potenzialentfaltung. Bei komplexen Sachverhalten bzw. Problemen liegt die Lösung ja gerade nicht auf der Hand. Oft besteht in solchen Situationen die Gefahr, dass wir passiv werden, wir ziehen uns zurück und nehmen nicht selten die Opferrolle ein oder verstricken uns in Rechtfertigungsschleifen. Die Frage nach dem großen Wurf, der umfassenden Lösung, ist oftmals hinderlich und führt zu nichts! Oft stelle ich in solchen Situationen aktivierende Fragen wie: „Was könntest Du tun, damit Dein Problem noch schlimmer wird? Und was müsste geschehen, damit gerade das nicht passiert?“ Wenn z.B. ein wichtiges Projekt ins Stocken gerät, dann geht das noch schlimmer, indem immer mehr Projekte gestartet oder noch mehr Anforderungen von oben reingekippt werden. Dann haben wir ein Priorisierungsproblem, der Fokus geht verloren. Häufig fällt es mir leichter zu benennen, was ich nicht will, nämlich keine Priorisierungskonflikte und stattdessen mehr Fokus.
Erste Schritte aus der Passivität gelingen meist durch kleinere, über einen überschaubaren Zeitraum vereinbarte Interventionen, sog. Micro Changes. Eine solche Intervention könnte beispielsweise sein, dass in der nächsten Woche alle Aufgaben und Anfragen konsequent abgelehnt werden, die mit dem Hauptprojekt nichts zu tun haben oder keinen Bezug zum Backlog haben. Die Rufumleitung wird aktiviert, der Kalender geblockt oder der Raum gewechselt (und die Tür von innen abgeschlossen). Gelingt dies, wird die Selbstwirksamkeit der Betroffenen gestärkt. Es findet eine konstruktive Auseinandersetzung mit dem Problem statt, durch die die Betroffenen häufig wachsende Kompetenz in der Beantwortung problemrelevanter Fragen gewinnen.
Weitere Informationen zum Thema Organisationsentwicklung haben wir auf unserer Homepage für Sie zusammengefasst.
Dieser Blog-Beitrag ist Teil der Blogparade „Corona – Leben im Lockdown?!“